Stephani Orlowski ist Missionsschwester vom hlst. Herzen Jesu von Münster-Hiltrup, 82 Jahre alt. Sie war tätig als Pastoralreferentin in Gemeinden und im Krankenhaus und gründete eine Niederlassung ihrer Ordensgemeinschaft in Satu-Mare, Rumänien. Sie ist Lehrerin der Kontemplation.
„Ich will, dass sie Leben haben, Leben in Fülle!“ (Joh. 10,10). Das ist mein Leitwort im Dienst an Gott und den Menschen, da wo ich gerade bin. Die Praxis der Kontemplation erfahre ich als Zentrum unserer Spiritualität des Herzens. Im Schweigen vor Gott öffnet sich ein weiter Raum der Stille. Alles Leben, Leiden, Werden und Vergehen hat hier seinen Ort. Hier erfahre ich die Essenz des Lebens in Fülle.
Das ganze Kapitel 10 des Johannesevangeliums gipfelt in dieser Aussage Jesu: „Ich bin gekommen, dass sie Leben haben, Leben in Fülle.“ (Joh. 10, 10) Der Kontext ist das Gleichnis vom guten Hirten, der seine Schafe auf fette Weide führt, sie beschützt und heilt, wenn sie sich verletzt haben. Ja, er sucht sie, wenn sie sich verirrt und den Weg verloren haben und trägt sie liebevoll zur Herde zurück. Wenn Gefahr droht, ist er sogar bereit, für sie zu sterben. Für seine Herde ist das „Leben in Fülle“.
Aber was bedeutet diese Rede für mich, als Mensch? Zum Essen gibt es Supermärkte, bei Verletzungen Ärzte und Krankenhäuser, für Gefahren jedweder Art gibt es Versicherungen. Wenn ich in den größeren Kontext, den Anlass dieser Rede Jesu schaue, weitet sich mein Verständnis der Botschaft dieses Gleichnisses. Das ganze Kapitel 9 ist der Heilung des Blindgeborenen und der Auseinandersetzung mit den Pharisäern gewidmet. Was dieser Blindgeborene und den aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen mit den Schafen des Gleichnisses gemeinsam hat, ist das unerschütterliche Vertrauen zu dem Guten Hirten, zu Jesus, und seiner göttlichen Vollmacht. Durch diese TÜR, als die Jesus sich selbst bezeichnet, tritt der Blinde ein, um so Heilung von seiner Blindheit zu erfahren. Und dies in zweifacher Hinsicht. Seine Augen werden geöffnet für das Licht des Tages und der Sonne, sein Geist und sein Herz öffnen sich der Erkenntnis Jesu, als den, der er ist. In einer sehr leibhaften Weise und im Dialog mit dem blinden Mann geschieht diese Heilung. Sie ist gleichsam eine Demonstration vor den anwesenden Pharisäern, die sie herausfordert, Stellung zu beziehen. Auf ihren Unglauben hin sagt Jesus: „Ich bin gekommen, den Blinden die Augen zu öffnen, und Sehende blind zu machen.“ (Joh. 9, 39)
Leben in Fülle ist für mich „Sehende sein: der klare Blick in das, was jetzt gerade ist, die Akzeptanz dessen, was gerade ist, zu leben und zu handeln wie es gerade jetzt erforderlich ist. In vollem Vertrauen und Glauben daran, dass Jesus selbst der Handelnde ist, dem ich als Werkzeug dienen darf.